Doch wurde ihre lebhafte Farbigkeit bald von der Kehrseite abgelost. In einer neuen
Schaffensperiode folgt die Vorliebe für schmutziges Grau, Braun, Beige und Schwarz in
Lumpen, verlorenen Handschuhen, Bespannungen von weggeworfenen Schirmen und
ähnlichen Materialien, die einen besonderen Reiz für sie haben, ihr sozusagen den Kick geben.
In Flecken von Schuhkrem sieht sie taschistische Strukturen. Anna-Jutta Pietsch entdeckt in
Zufallsmustern Augen, Münder, Ohren, die lebendig werden und Geschichten
von Wesen erzählen, welche sie selber in anderer Weise so beschreibt: „Man kennt sie von
irgendwoher. Sie sind verschattet, schrill, böse, verhärmt, verlottert. Man ahnt, sie haben es
schwer gehabt – obwohl die Kindheit rosig war – vielleicht haben sie schon hinter Gittern
gesessen, wurden ausgegrenzt, zur Vernichtung freigegeben. Wir sind zu etwas nütze,
schreien sie. Wir haben etwas zu sagen. Sie erzählen von Wut und Witz, von Not und
Nonsense, von Sucht und Sinn. Sie mischen sich ein, wollen sich nicht beseitigen lassen,
melden sich zu Wort. Die Kunst bietet die Möglichkeit, Angst und Schrecken, Gefahr und Not in
Bilder zu bannen, aber auch Witz und Freude in der Trauer und Zerstörung aufleuchten zu
lassen. Unter Tränen lachen. Das ist notwendig, um Distanz herzustellen. – Der Lumpenbär,
zum Beispiel, der weiß das genau“.
Welch überzeugende, fesselnde, ja ergreifende Parabel für menschliches Leben
schlechthin. Diese schlüssige Selbstaussage wollte ich zitieren, weil die Betrachter sich umso
leichter tun werden, diese Momente selbst in den Werken der Künstlerin wahrzunehmen, die im
Innenleben tief schürfend und in ihren Sinn-Bildern das „himmelhoch Jauchzen und zu Tode
betrübt sein“ zu Tage fördert. Ich freue mich an so viel bezwingender Ausdruckskraft, die im
Keller, in der Rumpelkammer, auf der Straße, im Park gefundener Abfall herzugeben vermag,
wenn eine Meisterin wie Anna-Jutta Pietsch ihn umzugestalten versteht.
Johanna Kerschner
Herausgeberin von „und - Das Münchner Kunstjournal“
Text zum Katalog „Anna-Jutta Pietsch – Lumpenbilder“